Zahlen in der Natur – Einblicke in eine Art Naturphilosophie
Zahlen – die Sprache der Welt
Schon früh erkannten Menschen, dass sich Naturphänomene mithilfe von Zahlen und mathematischen Gesetzen erstaunlich genau beschreiben lassen. Mathematik – die Sprache der Zahlen – wurde so zum Schlüssel für das Verständnis unserer Welt (siehe auch Beitrag zu „Zahlen in Mathematik und Geometrie“). Bereits Pythagoras vermutete eine verborgene Ordnung hinter den Erscheinungen, die unabhängig von göttlichem Wirken existieren musste. Damit legte er den Grundstein für eine wissenschaftliche Erforschung der Naturgesetze, die über Denker wie Archimedes, Galilei, Newton und Darwin bis hin zu Albert Einstein führte – und in zahlreichen Errungenschaften der modernen Welt ihren Ausdruck findet. Diese Sichtweise war schon früh ein Kernpunkt der Naturphilosophie, die bis heute nach den Grundprinzipien hinter allen Erscheinungen fragt. Heute reicht die Anwendung der Mathematik vom Allerkleinsten – den Quarks, Atomen und Molekülen – bis zum Allergrößten: der Bewegung von Galaxien, der Expansion des Universums und der Beschreibung kosmischer Strukturen.
Zahlen, insbesondere einige von ihnen, spielten dabei stets eine zentrale Rolle. So entdeckte man Konstanten in der Natur, also Zahlenwerte, die universell und unveränderlich sind. Zu den ersten zählte die Kreiszahl π (Pi), die wohl schon die alten Ägypter kannten (siehe auch Beitrag zu „Zahlen in den ägyptischen Pyramiden“). Später folgten weitere wie die Eulersche Zahl e, die Feinstrukturkonstante α oder die Lichtgeschwindigkeit c. Solche Konstanten bilden das Fundament physikalischer Gesetze – unabhängig von Ort und Zeit. Sie sind objektiv in der Natur verankert und gelten überall im Universum. Heute weiß man: Schon geringste Abweichungen in einer dieser Konstanten – etwa bei der Gravitationskraft – würden eine vollkommen andere Welt hervorbringen, vielleicht sogar eine, in der kein Leben möglich wäre.
Mithilfe von Zahlen und ihren Beziehungen zueinander konnte man also beginnen, Zusammenhänge nicht mehr nur zu glauben, sondern zu wissen. Sie machten die Natur berechenbar – und damit verständlich.
Die Liebe der Natur zur Geometrie
Besonders auffällig ist die Vorliebe der Natur für geometrische Formen. Eine der einfachsten und gleichzeitig vollkommensten ist der Kreis – er findet sich überall: in der Iris des Auges, in der Sonne, im Querschnitt eines Baumstamms oder im Tropfen, der auf Wasser fällt. Aufgrund seiner Universalität in den Erscheinungen, seiner Einfachheit, sowie der ihn beschreibenden und mysteriös anmutenden Kreiszahl Pi, galt der Kreis in vielen Weisheitslehren und Religionen als die ursprüngliche und göttliche Proportion.
Ein weitere fundamentale geometrische Formen in der Natur ist die Symmetrie. Symmetrie bedeutet, dass ein Objekt durch Spiegelung, Drehung oder Verschiebung in sich selbst überführt werden kann. Sie begegnet uns bei Lebewesen – dem seitlich symmetrischen Aufbau des Menschen, bei Blüten, Schmetterlingen und Tieren – aber auch in anorganischen Strukturen wie Schneeflocken, Regenbögen oder Kristallen.
Abb: Symmetrie in der Natur
Diese regelmäßigen Strukturen zeigen, dass hier die Anordnung der einzelnen Teile eines Elements nicht zufällig ist, sondern einem strengen Muster folgt. Nur wenn jedes einzelne Teil seinen Platz hat, entsteht das einheitlich wirkende Gesamtbild. Und erstaunlicherweise ist es genau das, was von Menschen (und vermutlich auch Tieren) als schön, harmonisch und ansprechend empfunden wird. Zahlen und Geometrie bekommen so einen qualitativen Ausdruck. Plötzlich besteht eine Verbindung zwischen „kühlen“, rein formellen Zahlen zu inhaltlichen Eigenschaften. Zahlen werden zum Vermittler von Botschaften. Sie werden Träger von Bedeutung, Schönheit und sogar Emotion.
Diese Beobachtung machten bereits die ersten Philosophen und frühen Wissenschaftler. Wahrscheinlich war der offensichtliche Bezug von Zahl und Botschaft der Grund für Pythagoras These „Alles ist Zahl“. Bereits er verband Zahlen mit dem Phänomen Schönheit: Seine Harmonielehre zeigte, dass bestimmte Tonabstände mathematisch definierbar sind und Harmonie durch Zahlenverhältnisse entsteht, vgl. Beitrag „Zahlen in der Musik“.
„Warum haben Apfelblüten immer fünf Blätter? Nur Kinder stellen diese Frage. Erwachsene interessieren sich nicht für solche Dinge, sie halten sie für selbstverständlich.“
(György Doczi)
Die Schönheit der Natur in Zahlen
Ähnliche Eigenschaften erkannten frühe Forscher in Zusammenhang mit einer anderen berühmten geometrischen Proportion: dem goldenen Schnitt. Man entdeckte, dass Proportionen in diesem Verhältnis als besonders schön empfunden werden. Später gingen die Erkenntnisse rund um den goldenen Schnitt aber viel weiter: Es wurde offensichtlich, dass der goldene Schnitt tief in der Natur und ihren Wachstumsmustern verankert ist. Er und die mit ihm verbundene Fibonacci-Folge fand man in der Entwicklung und im Aufbau etlicher Pflanzen, Tiere und auch beim Menschen.
Es zeigte sich wiederum, dass bestimmte Zahlenkombinationen nicht nur zentral und universell in der Natur vorkommen, sondern dass mit ihnen besondere Eigenschaften, Qualitäten verbunden sind, wie am Beispiel des goldenen Schnitts die Prinzipien Wachstum, Schönheit und Stabilität. Angesichts dieser engen Verbindung zwischen bestimmten Zahlen und bestimmten Qualitäten, verwundert es nicht, dass von diesen eine besondere Faszination ausging und Menschen mit vielen Zahlen etwas „Magisches“ oder „Göttliches“ verbunden. Man kann sich diesem Eindruck auch heutzutage kaum verwehren, wenn man zum Beispiel einen Blick auf eine Formel wirft, die den goldenen Schnitt beschreibt. Unstreitig vermittelt diese nicht nur durch ihre Anordnung der mathematischen Elemente den gleichen Eindruck wie die spirale Verschachtelung beispielsweise eines Schneckenhauses – das Ausdruck des goldenen Schnittes ist – man muss selbst als Nicht-Mathematiker eingestehen, dass von der Formel eine gewisse Schönheit ausgeht. Die Form der Zahlen ist eng mit dem Inhalt verbunden, der durch sie in Erscheinung gebracht wird.
Neuere Geometrien
Später wurden zahlreiche neue geometrische Muster entdeckt, die in der Natur eine bedeutende Rolle zu spiele scheinen. Bekannt geworden sind vor allem sogenannte Fraktale: selbstähnliche Muster, die sich auf unterschiedlichen Maßstabsebenen wiederholen. Diese wurden erst im 20. Jahrhundert intensiver erforscht – bekanntestes Beispiel: die Mandelbrotmenge. Fraktale findet man in der Natur etwa bei Brokkoli, in Adernetzen, Lungenverästelungen oder Küstenlinien. Heute nutzt man fraktale Geometrie in der Computergrafik, in der Datenkompression oder zur Beschreibung von Chaosprozessen in der Physik.
„Du hältst mit einem Körnchen Sand und einer Blume vom Wiesengrunde eine ganze Welt in deiner Hand, Unendlichkeit in einer Stunde.“
(William Blake)
„Fast alle Netzwerke, die Leben unterhalten, sind annähernd selbstähnliche Fraktale. […] Besonders faszinierend ist, dass in all diesen Exponenten die Zahl 4 auftritt.“
(Geoffrey West)
(Mehr zur Symbolik der 4.)
Alle Materie baut auf Zahlen auf
Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Verankerung der Zahlen in der Natur ist das Periodensystem der Elemente. Mit ihm lassen sich wie mit keinem anderen System die grundlegenden Bausteine jegliche Materie beschreiben und sortieren. Wichtig zu sehen ist, dass weder die dort beinhalteten Elemente Erfindungen des Menschen sind noch ihre Anordnung. Letztere ergibt sich allein und zwingend aus dem Aufbau der Elemente. Und dies ist ausschließlich ein zahlenmäßiger. Die unterschiedlichen Elemente, aus denen sich wohlgemerkt jegliche Materie zusammensetzt, unterscheiden sich lediglich in der Anzahl, also der Menge an Protonen, Neutronen und Elektronen. Die reine Zahl bestimmt also die Eigenschaften eines Elements. Anders ausgedrückt: Die Qualität folgt der Quantität. Auch hier sind Zahlen nicht nur bloßen Mengenangaben, sondern unmittelbar mit bestimmten Eigenschaften verbunden. So besteht zum Beispiel das essentielle Element des Lebens, Kohlenstoff, aus sechs Protonen, während Plutonium aus 94 besteht. Die Anzahl allein bestimmt, ob ein Element lebensnotwendig oder tödlich giftig ist. Qualität folgt hier ganz unmittelbar der Quantität.
Zahlen in der Natur – mehr als bloße Mengen
Es ist bemerkenswert, dass die Natur eine solche Vorliebe zu Zahlen hat, nicht nur weil sich die Vorgänge in der Natur mit Zahlen besonders gut beschreiben und berechnen lassen, sondern vor allem auch deshalb, weil mit bestimmten Zahlen, Proportionen und Geometrien bestimmte Eigenschaften zwingend einhergehen. Zahlen sind damit nicht nur reine Mengen, sondern sie vermitteln stets auch Qualitäten. Diese Ansicht ist heutzutage nicht mehr populär, da man die rechnende, formelle Seite der Zahlen strikt von einer inhaltlichen, qualitativen zu trennen versucht. Eine Verknüpfung beider Perspektiven erscheint in den Augen moderner Naturwissenschaftler unwissenschaftlich. Eine Philosophie der Zahlen kennt man nicht mehr. Dabei zeigen die oben genannte Beispiele, dass eine solche Trennung zwischen Form und Inhalt, Quantität und Qualität, Materie und Geist, künstlich erscheint. Denn die Realität kennt diese Trennung nicht. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder eine ganzheitlichere Sichtweise einzunehmen – eine, in der sich Wissen und Weisheit nicht ausschließen, sondern gegenseitig ergänzen.
Mehr dazu im Buch „Verlorene Weisheit“.
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